99 Jahre - Portraits of Munich

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„Was für ein Zufall, dass diese Nachtigall mich so inspiriert hat. Das berührt mich heute noch.“

„Ich bin Sudetendeutscher und werde nächstes Jahr 100 Jahre alt. Man kann sich vorstellen, was ich alles erlebt habe. Mit 17,5 Jahren wurde ich zum Militär eingezogen. Vom Arbeitsdienst wurde ich sofort von der Wehrmacht übernommen und kam als Soldat nach Frankreich.

Dort habe ich die Invasion der Amerikaner miterlebt. Das war der Wahnsinn, was die da angerichtet haben. Die Deutschen konnten dem nichts entgegensetzen, und ich geriet in Gefangenschaft. Als Landarbeiter auf einem Gut musste ich hart arbeiten. Einmal hat uns der Koch zum Nachbarhof geschickt, um Butter zu organisieren. Während wir noch verhandelten, kamen zwei französische Gendarmen rein. Die dachten, wir wollten fliehen, und so wurden wir erneut eingesperrt.

Solche Erlebnisse gab es viele. Ein besonders einschneidendes war 1944. Das Lager war voller Wanzen, Flöhe und Läuse, und wir teilten uns oft ein Brot zu zehnt. An einem Abend stand ich am Fenster, als eine Nachtigall zu singen begann. Das war so schön, dass ich mir sagte: ‚Jetzt muss sich mein Leben ändern, sonst sterbe ich auch.‘ Mein Kamerad, doppelt so alt wie ich, war sehr krank, und ich fühlte mich für ihn verantwortlich. Als einmal Bauern und Handwerker billige Arbeiter suchten, überzeugte ich meinen Kameraden, sich zu melden. So kamen wir auf ein Gut – ich als Arbeiter, er als Hufschmied. Dort holte der Patron einen Arzt für ihn, und das rettete ihm das Leben. Er war mir so dankbar. Für mich war das selbstverständlich. Dass die Nachtigall mich so inspiriert hat, berührt mich noch heute.

Nach sechs Jahren kehrte ich nach Deutschland zurück. Meine Mutter war völlig aufgelöst, denn meine Eltern hatten seit Jahren keine Nachrichten von mir. Doch auch hier begann eine schwere Zeit. Als Sudetendeutscher war ich fremd und wurde nicht freundlich aufgenommen. Ich hatte nichts – keinen Beruf, kein Vermögen. Nur das, was ich im Kopf hatte, war mein Besitz. Also bildete ich mich abends weiter, und es gelang mir über Jahre, mich emporzuarbeiten. 1952 heiratete ich, und wir bekamen drei Kinder. Leider sind beide Söhne sehr jung gestorben – harte Schicksalsschläge.

Jetzt bin ich hier im Heim, meine Familie besucht mich, und ich bin zufrieden mit meinem Leben. Ich wurde in die Bewohnervertretung gewählt und habe mit meinem Nachbarn einen Skatclub gegründet. Ich hoffe, dass ich bis zu meinem Ende hier bleiben kann.“

Viertel: Lehel
Beruf: Rentner